Pausen

Primäre und sekundäre Sinnesqualitäten, die von der kulturspezifischen europäischen Abstraktionsbasis noch zugelassen werden, treten in der faktischen Wahrnehmung ganz zurück hinter Qualitäten anderer Art, die Brücken leiblicher Kommunikation sind, von der Wissenschaft aber bis heute übersehen werden, weil sie von der Abstraktionsbasis, auf der die Begriffsbildung beruht, verdrängt sind. Es handelt sich in meiner Terminologie um Gestaltverläufe und synsästetische Charaktere. Gestaltverläufe sind Bewegungssuggestionen von Gestalten. Darunter auch von solchen, die selbst Bewegungen sind. Manche Gebärden sind winzige Bewegungen mit wuchtigem, weit auslandenem vielsagendem Gestaltverlauf, der der Gebärde ihren Sinn oder ihre Zudringlichkeit gibt. Denken Sie daran, dass man auf einen nahen Menschen mit dem Finger zeigt. Gestaltverläufe kommen als optische, akustische und taktile vor und können fast unverändert von einem Medium in das andere und in den gespürten eigenen Leib übergehen. Wie zum Beispiel der Rhythmus, das heisst der Gestaltverlauf einer eventuell von Pausen durchsetzten Sukzession. Deswegen schreibt man ja Gedichte, die unter die Haut gehen sollen, eher in rhythmischen Versen als in Prosa.

Hermann Schmitz

Liebe Besucherin, lieber Besucher,
Zurzeit nehme ich in der Praxis für die Sachen selbst keine neuen Aufträge an. Ihre geschätzten Anfragen leite ich gerne an mein Netzwerk weiter. Zu phänomenologischen Aspekten von Beratung wird die Seite weiterhin Updates erhalten.

…und so fort…

Deine Darstellung ist trostlos, aber nur für die Analyse, deren Grundfehler sie zeigt. Es ist zwar so, daß der Mensch sich aufhebt, zurückfällt, wieder sich hebt und so fort, aber es ist auch gleichzeitig und mit noch viel größerer Wahrheit ganz und gar nicht so, er ist doch Eines, im Fliegen also auch das Ruhen, im Ruhen das Fliegen und beides vereinigt wieder in jedem Einzelnen, und die Vereinigung in jedem, und die Vereinigung der Vereinigung in jedem und so fort, bis, nun, bis zum wirklichen Leben, wobei auch diese Darstellung noch ebenso falsch ist und vielleicht noch täuschender als die deine. Aus dieser Gegend gibt es eben keinen Weg bis zum Leben, während es allerdings vom Leben einen Weg hierher gegeben haben muß. So verirrt sind wir.

Franz Kafka

Zwischen den Seiten von Ich und Welt fand sich ein Zeitungsartikel zu Schulz’ Untersuchungen der Geschichte der Ästhetik. Weil ich es, nachdem das Zitat aus der Einleitung kopiert war, meinem Freund schenkte, bleibt das Buch von hier aus gesehen eines, über das man spricht, aber nicht gelesen hat. Ob es die Überlegung enthält, dass Subjektivität, auf die sein Untertitel eingeht, am Ich haftet und kaum anders in der Welt vorkommt? Dass Auseinandersetzungen aus der Vergangenheit – das Buch stammt aus dem Jahr 1979 – es mitunter vermögen, die Gegenwart zu entwirren, stand beim Verschenken im Hintergrund. In erster Linie erhielt der Freund das Buch, weil es ästhetisch ist, es einen Verweis zu einem weiteren Buch enthält, das mit Ästhetik befasst ist und weil ein Antiquar mit ihm ein Schaufenster auf eine Weise ausstattete, die meine Subjektivität zu betreffen vermochte. Ein Ich bespielte die Welt. Sie bespielte daraufhin ein Ich. Und so fort.

Merkmale

Autonom eine Entscheidung fällen zu können, ist davon abhängig, dass einer Person die Frage «Was soll ich tun?» etwas bedeutet und das, wozu sie einen Entscheid zu fällen hat, etwas mit ihr zu tun hat. Die Person soll mit dem Gegenstand der Entscheidung und der Frage dazu identifiziert sein.

Auslegung in der Praxis für die Sachen selbst ist bestimmt durch

Vertrauen darin, dass personales Wachstum möglich ist,

Erfahrung, im Hinblick darauf, dass jede Person in der Lage ist, sich auf sich selbst zu beziehen,

Vermutung, mit der sich vor Augen zu halten ist, eine bestimmte Hermeneutik auf die Narrative der zu beratenden Person zu legen und in einem zweiten Schritt, was ihre Erzählung, unter Beizug phänomenologischer Gesichtspunkte, sein könnte.

Die Gespräche in der Praxis für die Sachen selbst orientieren sich an Beschrieben, an Bildern, an Gefühlen und an der Revision von Dargebrachten.

Persönliche Revolution besteht niemals darin, plötzlich draufzukommen, sich komplett geirrt zu haben. Der eigene Deutungshorizont verändert sich langsam. Dieser Umstand wird zur Quelle, kristallisieren sich Probleme heraus, um die sich plötzlich das ganze Leben zu sortieren scheint. Unsere Sicht auf das eigene Dasein ist kein Kippbild. Wir sind in der Lage den Spuren zu folgen, die unsere Sichtweise beeinflussen. Wir vermögen es, was bei der Lösung eines Problems als Störung auftritt, als Vorboten anzusehen: Was in Verbindung mit Unlösbarkeit als Störfaktor erscheint, ist dabei oft die Urform der Lösung.

Es lohnt sich über Wert- und Normvorstellungen zu sprechen. Oft sind hier lähmende Widersprüche zu finden. Die Widersprüche werden bleiben. Die Möglichkeit an ihnen zu wachsen auch.

Zum Abschied

Lieber Arbeitsfreund

Dich dem Sterben ausgesetzt zu wissen, ist beängstigend. Weisst du noch, wie wir uns nach einem Treffen in Olten quicklebendig auf unsere Velos schwangen? Oder wie du auf einer unserer Reisen zu einer Tagung das Cockpit übernahmst, nachdem du mich vergeblich, liebevoll und fürsorglich, dazu animiert hattest, auf der deutschen Autobahn auf die Tube zu drücken. Deine Konzentration, deine Aufmerksamkeit, deine Routine und deine Kraft zu spüren, während du meinen Wagen geschwind über den Asphalt in die Weite eines Sommerabendhimmels triebst, ist unvergesslich. Auf diesen Fahrten wurdest du nicht müde, über Phänomene und Emotionen zu sprechen. Wir glühten förmlich. Du fandest es nicht abwegig, dass es phänomethodisch gesehen darum geht, Jaeggi, Neiman, Arendt, weiblicherseits, und Hoyningen-Huene sowie Feyerabend, männlicherseits, hinter sich zu stellen, um von einem phänomenologischen Standpunkt aus auf Krisen und Konflikte von Klientinnen und Klienten blicken zu können.

Kennst du die Geschichte vom Restaurant am Ende des Universums? Es liegt unmittelbar vor dem Untergang, dort wo der Raum aufhört zu existieren. Das Restaurant wird von Kraftfeldgeneratoren daran gehindert unterzugehen. Jeden Abend wird den Gästen das gleiche Spektakel geboten. Die Generatoren werden für einen kurzen Moment ausgemacht, das Restaurant treibt Richtung Nichts. Kurz bevor es verschlungen wird, erwachen die Generatoren zum Leben, die Gäste schnaufen erleichtert auf, beenden ihr Mahl, bezahlen und setzen sich in ihre Raumschiffe, um in wohnlichere Galaxien zurückzukehren.

Douglas Adams hat sich das ausgedacht. Seine irdische Existenz endete abrupt, seither vermisse ich ihn. So, wie ich dich vermissen werde. Mit wem soll ich zukünftig durch das deutschsprachige Europa düsen und Zwischenhalte an Raststätten einlegen, die den Eindruck erwecken, einem Untergang ausgesetzt zu sein? Wem soll ich von Žižeks Phänomenologie berichten, die uns in die Lage versetzen will, die Realität sozusagen von aussen zu betrachten?

Trotz des Gedankens, du machest dich gegebenenfalls bald auf, um zusammen mit Adams besagtem Restaurant einen Besuch abzustatten, bleibe ich untröstlich.

Tun

Wir tun etwas und erleben durch die Effekte dieses Tuns, dass in Hinsicht auf die von uns ansgestrebten Ziele unser Tun mehr oder weniger gelungen ist.

Rahel Jaeggi, Kritik von Lebensformen, Suhrkamp Verlag, Berlin, 2014, S. 401

Das Erschrecken ob weniger Gelungenem gipfelt oft genug in demjenigen Tun, das uns die Effekte weniger gelungen erneut vor Augen führt.

Prototypen

Isolationist

Im Verlaufe der Lebensjahre zunehmend für Isolation sorgen. In jedem Aktionsfeld, das sich einem eröffnet. Das abgeschiedene Haus. Der Zaun mit dem Stacheldraht. Er isolierte sich, weil er davon ausging, sonst nicht schreiben denken zu können. Die Zettelkastenszenen im Film: #Befreiung. Wie es zum Ende hin immer enger wird um ihn. Der Freund, der in die Nähe zieht, die Journalisten, die das Haus belagern, die SchriftstellerInnen, die in sein Dorf pilgern, während er sich all diesen Menschen zu entziehen versucht.

Konfluentiker

Seine Augen sind kalt, aber sein Mund ist sinnlich. Er ist ein Mann der das Leben verschlingen muss.

Anaïs Nin