KategorieAnnäherung

Erst schreiben, dann fragen

Die Texte auf gegenwartundstruktur.net sind mit Zetteln verwoben, die sich in einem Backlog ansammeln. Dafür wurde lange Zeit eine, von der Öffentlichkeit weitgehend abgeschottete, WordPress-Installation verwendet. Seit Oktober 2023 ist obsidian.md Zettelkasten und Schreibwerkstatt. Als Lagerraum bietet das Programm einschlägige Möglichkeiten, Fundstücke, wie Zitate und Gedanken, abzulegen und mittels Link, Kategorien und Schlagwörtern untereinander zu vernetzen. Jedes Fitzelchen wird zettelweise ans Lager genommen. Betreffnisse (Begegnungen mit Zitaten und Gedanken) sollen der Bewertung lagerwürdig entzogen bleiben, indem im Vordergrund gehalten wird, dass es um Herstellung, Kategorisierung, Verschlagwortung, Ablage und Überarbeitung von einzelnen Zetteln geht. Erst ans Lager nehmen, dann fragen, was ans Lager genommen wurde, ist die Übung.

Dem Backlog wird zu einem Text, der sich in Entstehung befindet, in verschiedener Weise auf den Zahn gefühlt: Es kann auf die Verschlagwortung von Zetteln abgestellt werden, auf die Kategorien, denen die Zettel zugewiesen wurden, als auch auf die Volltextsuche. Was dabei erscheint, lässt sich grob in erwartet, überraschend und keine einteilen. Erwartetes dient der (Selbst-) Vergewisserung, Überraschungen (bspw. unerwartete Zettel) liefern Denkanstösse, während keine Ergebnisse der Anfang einer Suchbewegung ausserhalb des Backlogs sein können.

Erst schreiben, dann fragen steht dem Auftrag gegenüber, der mit einem Backlog üblicherweise verfolgt wird. Die einzige spezifische Aufgabe ist, Sachen ans Lager zu nehmen. In Verbindung mit der Produktion von (öffentlich zugänglichen) Blogbeiträgen können die im Backlog hinterlegten Kategorien als Überschriften von Tasks (Aufgaben) angesehen werden.

Merkmale

Autonom eine Entscheidung fällen zu können, ist davon abhängig, dass einer Person die Frage «Was soll ich tun?» etwas bedeutet und das, wozu sie einen Entscheid zu fällen hat, etwas mit ihr zu tun hat. Die Person soll mit dem Gegenstand der Entscheidung und der Frage dazu identifiziert sein.

Auslegung in der Praxis für die Sachen selbst ist bestimmt durch

Vertrauen darin, dass personales Wachstum möglich ist,

Erfahrung, im Hinblick darauf, dass jede Person in der Lage ist, sich auf sich selbst zu beziehen,

Vermutung, mit der sich vor Augen zu halten ist, eine bestimmte Hermeneutik auf die Narrative der zu beratenden Person zu legen und in einem zweiten Schritt, was ihre Erzählung, unter Beizug phänomenologischer Gesichtspunkte, sein könnte.

Die Gespräche in der Praxis für die Sachen selbst orientieren sich an Beschrieben, an Bildern, an Gefühlen und an der Revision von Dargebrachtem.

Persönliche Revolution besteht niemals darin, plötzlich draufzukommen, sich komplett geirrt zu haben. Der eigene Deutungshorizont verändert sich langsam. Dieser Umstand wird zur Quelle, kristallisieren sich Probleme heraus, um die sich plötzlich das ganze Leben zu sortieren scheint. Unsere Sicht auf das eigene Dasein ist kein Kippbild. Wir sind in der Lage den Spuren zu folgen, die unsere Sichtweise beeinflussen. Wir vermögen es, was bei der Lösung eines Problems als Störung auftritt, als Vorboten anzusehen: Was in Verbindung mit Unlösbarkeit als Störfaktor erscheint, ist dabei oft die Urform der Lösung.

Es lohnt sich, über Wert- und Normvorstellungen zu sprechen. Oft sind hier lähmende Widersprüche zu finden. Die Widersprüche werden bleiben. Die Möglichkeit an ihnen zu wachsen auch.

Rare Ausgänge

Von der Strenge der Wissenschaft ist eine kurze Geschichte von Jorge Luis Borges. Sie handelt von einem Land, in dem die Wissenschaften der Kartografie und der Geografie überragende Perfektion erlangten. Die Karten zum Land wurden, infolge der zunehmenden Detaillierung, grösser und grösser. Der Hang zum Detailreichen konnte mit dem Bedürfnis nach Genauigkeit erklärt werden. Dieses wiederum war der Strenge der Wissenschaften geschuldet. Irgendwann war jedes Detail abgebildet und daraus ergab sich eine Landkarte, die die gleiche Grösse wie das Land hatte. An diesem Punkt blitzt auf, dass Versuche, Universalerkenntnis zu etwas zu erlangen, in die Leere führen. Was kann mit einer solchen Karte noch zu einem Land gesagt werden? Borges warnt andererseits an verschiedenen Stellen davor, Sachen unterkomplex abzubilden.

Die Sachen sind von hier aus gesehen in weiten Teilen verstellt. Das bezieht sich aufs Kartografieren, als auch die Landschaft. Findet sich Verstelltes in der Landschaft, ist es darzustellen, kartografische Unsicherheiten (Was ist Geografie?) sollen auf den Tisch.

Wissenschaftliche Klarheit hängt an Abstraktion (als ein Aspekt von Sytematizität), anhand der Sachen (in der Landschaft) abgebildet werden sollen. So abstrakt wie möglich, so konkret wie notwendig lautet die Lebensregel, um den Labyrinthen zu entkommen. Es ist von hier aus gesehen theoretisch (kartografisch, geografisch) und landschaftlich labyrinthisch. Ausgänge sind vorhanden, aber rar.

Phänomenologische Betrachtung

Um zu beschreiben, was phänomenologische Betrachtung auszeichnet, gehen wir zuerst auf das Verhältnis zwischen Konstruktivismus und Phänomenologie ein und setzen voraus, dass der Konstruktivismus an einer Ontologie festgemacht sein muss, will mit ihm etwas über die Wirklichkeit gesagt werden. Um sehen zu können, was damit gemeint ist, bezeichnen wir Erfahrungswirklichkeit als Koordinatenursprung. Statt auf Konstruktivismus, der ohne fundamentale Strukturen des Seins und seinem Wesen auszukommen sucht und so auch Erfahrungswirklichkeit losgelöst, für sich alleine stehend, betrachten würde, gehen wir auf eine Form ein, die Varga von Kibéd konsequenten Konstruktivismus nennt.1vgl. Varga von Kibéd, M., & Sparrer, I. (2018). Ganz im Gegenteil: Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker, und solche die es werden wollen (Zehnte Auflage). Carl-Auer-Systeme Verlag. Nach dieser Ausprägung ist es erforderlich, sich selber auch als interessante Konstruktion, und damit als im Bodenlosen verwurzelt, anzusehen. Das soll unser Scharnier sein. Von hier aus schlagen wir den Bogen zur Phänomenologie.

Nun können wir fragen, wer im Bodenlosen verwurzelt ist. Aus Sicht des Phänomenologen Hermann Schmitz lautet die Antwort: Der Leib. Ein humanoides Ich kann (unabhängig von seinen 5 Sinnen) feststellen, dass immer schon etwas da ist, wenn es auf sich oder auf das, was es umgibt, bezogen ist.2vgl. Hartmut Rosa in Unverfügbarkeit. (2018). Residenz Verlag, S. 12, zu Maurice Merleau-Pontys Welt-Subjekt-Beziehung Gerade die neue Phänomenologie beteuert, aufgrund dieser Feststellung müsse es der Leib sein, der schon da ist. Sein Dasein ist nicht alleine an seinem Denken festgemacht, sondern an einer Art Gesamteindruck, also auch an Wahrnehmung. Die neue Phänomenologie nennt solches Wahrnehmen affektives Betroffensein. Darauf stellt der Satz Was zwingt mich, etwas zu einer Zeit an einem Ort gelten zu lassen? ab und daraus entwickelt Schmitz seine Revisions-Idee. Das lässt sich anhand von Schmitz‘ Umgang mit Situationen konkretisieren. Situation sieht er als grundlegenden und konkreten Gegenstandstyp der Lebenserfahrung an. Das Spezifische von Situationen ist, so Schmitz, der Ruf ihrer Tragweite. Sie bestehen aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, die nicht sämtlich einzeln, sondern zu chaotisch mannigfaltiger Ganzheit verschmolzen sind. Schmitz‘ Ausdruck chaotische Mannigfaltigkeit meint eine Binnendiffusion3vgl. http://www.topowiki.de/wiki/Explikation, die darin besteht, dass unter den Elementen des Mannigfaltigen keine durchgängige Entschiedenheit dazu erfüllt ist. Es ist nicht Chaos im Sinne von Verworrenheit oder verworrenem Durcheinander gemeint, sondern im Sinne von Verschwommenheit. Situationen können aktuell oder zuständlich sein, privat oder gemeinsam. Gegenständlich oder subjekt- und objektunverteilbar übergreifend. Die Persönlichkeit eines Menschen ist seine persönliche Situation, die viele Situationen in sich trägt und in viele eingebettet ist. Unter den Situationen sind die Eindrücke diejenigen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Sie sind vielsagend, weil sie dank des chaotischen, mannigfaltigen Hofes ihrer Aussagekraft mehr zu verstehen geben, als sich einzeln sagen lässt. Vielsagende Eindrücke, wie beim Betrachten eines interessanten Gesichts, eines Porträts, einer eigenartigen Naturstimmung oder beim Betreten einer Wohnung, die einem gleich behaglich oder kahl vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat, vielsagende Eindrücke sind die genuinen Einheiten der Wahrnehmung. Zwischen den Spitzen der auffälligen Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen, an denen wir uns ständig unwillkürlich orientieren. Eindrücke können ausser dem Hof ihrer Bedeutung auch beliebige andere Gegenstände, zum Beispiel dingliche oder sinnliche Kerne, enthalten.4vgl. Hermann Schmitz zu «Wege zu einer volleren Realität»

Das wird hier nicht als grundsätzliche Absage an den Reduktionismus verwendet. Für den Moment ist einfach verlangt, die Bildung von Alltagswissen und die Bildung von wissenschaftlichem Wissen auseinanderzuhalten. In Situationen, wie von Schmitz verstanden, bleibt der Bezug zwischen Lebensumständen und eigener Positionalität erhalten.

Vom Rationalismus (als Denkweise) nehmen wir hier an, dass er epistemisch mit der Wirklichkeit ringt. In der Übertreibung ist mit dem Konstruktivismus gemeint, dass es keine Wirklichkeit gibt. Die Phänomenologie nimmt in Anspruch, dass immer schon etwas da ist, das (trotz aller Epistemisierung) nicht hintergangen werden kann.

Um den phänomenologischen Blick zu schärfen, wird abschliessend die (soziologische) Erfahrungswirklichkeit durch einen passenderen Begriff ersetzt. Gottfried Ben habe, so Sloterdijk, mal gesagt: «Ich blickte in mich hinein und was fand ich? Ich fand die Soziologie und die Leere». Das bedeute, so Sloterdijk weiter, ein Ich findet Leute und nichts. Und das Nichts ist das Ich.5vgl. Peter Sloterdijk in Sein und Streit zu Freiheit Das Nichts ist jedoch bereits bestimmt durch das Unbestimmte, das noch alles werden kann. Diese (unbestimmte) Bestimmung ist (im Vergleich zum Begriff Erfahrungswirklichkeit) mit Tatsachensubjektivität deutlicher gefasst. Sie ist ein Fazit der neuen Phänomenologie. Mit ihr lässt sich die Empfehlung unterstreichen, in der (alltags-, bzw. lebensweltorientierten) Praxis Versuchen zu erliegen, die Wirklichkeit weder als Konstruktion anzusehen noch sie epistemisch zu binden.6vgl. Bogner, A. (2021). Die Epistemisierung des Politischen: wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Reclam.