KategorieSein in der Welt

Phaemo® und Soziale Arbeit

Das Kunstwort Phaemo® umfasst Phänomen und Emotion. Der Hamburger Psychologe Joachim Lempert hat es geprägt. Während ich bei ihm dazu in der Weiterbildung war12010 bis 2017, zu Gewaltberatung und Tätertherapie, stellte sich mir, als Vertreter der Sozialen Arbeit, die Frage, worin sich Konstruktivismus und Phänomenologie unterscheiden. Die Antwort, die sich darauf fand, führte dazu, in der Praxis für die Sachen selbst Vorannahmen und empirisches Wissen über das zu Untersuchende auszuklammern, das Fühlen in den Vordergrund zu stellen und auf die Phänomenologie von Beratungen zu achten.

Radikaler Konstruktivismus, der ohne fundamentale Strukturen des Seins oder seines Wesens auskommt, steckte anfänglich meinen Deutungshorizont ab. Tief überzeugt betrachtete ich Erfahrungswirklichkeit als individuelle Konstruktion, die keinesfalls als Abbild einer objektiven Realität verstanden werden kann.

So war es kein Zufall, dass ich, als Lempert das Phänomenologische Wahrnehmungsmodell einführte, Watzlawicks

Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.

am passendsten fand.

Phänomenologisches Wahrnehmungsmodell (ausgezogene Pfeile) von Joachim Lempert (eigene Darstellung)

 

Um auf Interpretation, Bewertung und Derivates Gefühl anzuspielen, mag sich das Zitat eignen. Eines, das darauf eingeht, was Welt, Phänomen und Originäres Gefühl in der Beratung bewirken können, war ausser Reichweite.

Mich mit der Phänomenologie2Im Wesentlichen mit der Neuen Phänomenologie, auf die sich Lempert bezieht. Die primären Quellen für diesen Text sind Leib und Gefühl, Kurze Einführung in die Neue Phänomenologie, Ausgrabungen zum wirklichen Leben, der YouTube-Kanal der Gesellschaft für Neue Phänomenologie und Tom Latkas Topo-Wiki. anzufreunden, führte allmählich dazu, konstruktivistische Überzeugungen zu erweitern oder loszulassen. Wobei einer der Wegbereiter ein Konstruktivist war. Varga von Kibéd nennt seine Form Konsequenten Konstruktivismus. Diese Ausprägung fordert, sich selbst auch als interessante Konstruktion anzusehen. Er spricht zur Einteilung von Sein von einer «Verwurzelung im Bodenlosen». Das war das Scharnier. Verstehend, liess sich von da aus der Bogen zur Phänomenologie schlagen. Auf Wer ist im Bodenlosen verwurzelt? mit Hermann Schmitz’ Leib zu antworten, lag nahe.

Hermann Schmitz verweist auch bei der unmittelbaren Wahrnehmung, dass etwas bereits da ist, auf die zentrale Rolle des Leibes. Das ist besonders tragfähig, wenn auf Lemperts Modell der Denkraum für Welt, Phänomen und Originäres Gefühl offen gehalten und Leiblichkeit, als Begriff für umfängliche Verkörperung einer Person, gegenübergestellt wird. Hartmut Rosa zeigte hierzu auf,

dass Menschen immer schon in eine Welt hineingestellt sind. Der erste Bewusstseinsfunke beim Aufwachen am Morgen oder nach einer Narkose, vermutlich der erste Bewusstseinseindruck auch eines Neugeborenen ist der einer Gegenwart(…).3Rosa, Hartmut. (2018). _Unverfügbarkeit_. Residenz Verlag. S. 12.

Mit Unterstützung von Paul Hoyningen-Huene liess sich zu den Schwächen des Konstruktivismus schliesslich sagen, dass er dazu tendiert, die Frage Wie können wir etwas wissen? mit der Frage Was ist real? zu vermischen. Hoyningen-Huene machte mir deutlich, dass die Eigenständigkeit der Welt von unseren Erkenntnissen nicht aufgehoben wird, bloss weil unser Wissen sozial konstruiert sein kann. Es entstand Klarheit dazu, wie einengend angewandter Sozialkonstruktivismus in Beratungssituationen wirken kann. Das phänomenologische Wahrnehmungsmodell (mit einer Welt, die aus sich heraus existiert) als Gesprächsgrundlage zur Frage nach akzeptabler Abdrift anzubieten und Leiblichkeit als stabilen Anker in einem potenziell chaotischen Diskurs über Wirklichkeit und Werte zu betrachten, entpuppte sich als fruchtbare Erweiterung der Praxis.

Was ist das zu Tuende?

Zu diesem Zeitpunkt fand sich das vermisste Zitat:

(…) Selbstverwirklichung [besteht] nicht allein in der Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Vermittelt über diese »Fähigkeiten und Potentiale« bedeutet Selbstverwirklichung vielmehr einen Vorgang tätiger Weltaneignung. Selbstverwirklichung wird demnach nicht als Verwirklichung von etwas und nicht als eine Art von »innerem Wachstum« oder als »Entfaltung« verstanden (Wie beispielsweise in der »Humanistischen Psychologie«), sondern als eine Weise des Tätigseins. Man verwirklicht nicht sich, sondern sich in dem, was man tut. Zu verwirklichen hat man sich, sofern man erst durch diese »Entäusserung« aus der »Nacht der Möglichkeiten in den Tag der Wirklichkeit« (Hegel) tritt.4Jaeggi, Rahel. (2016). Entfremdung. Suhrkamp Verlag. S. 284.

Es nimmt auf, dass die Frage nach dem zu Tuenden Lern- und Erfahrungsprozesse in Gang bringen will. Für diese Erkenntnis bin ich Joachim Lempert dankbar: Sein «Was tust du jetzt?» ist nicht zuerst auf Zielverwirklichung ausgerichtet, sondern auf die Reflexion zum eigenen Prozess. Die Aufmerksamkeit liegt auf dem Wie des Handelns, darauf, ob wir uns in unseren Entscheidungen entfalten und entwickeln.

Was Geltung hat

Die Beschaffenheit des philosophischen Systems von Hermann Schmitz ist durch «Was zwingt gerade mich, etwas zu einer Zeit, an einem Ort, gelten zu lassen?» ausgedrückt.

Weil «Soziale Arbeit Arbeit am Sozialen ist, nicht am Körper und nicht an der Psyche»5Seydel, Stefan M., dissent.is., kann Repräsentantinnen und Repräsentanten der Disziplin an dieser Stelle aufgehen, dass es für sie ausgeschlossen ist, die Praxis der Phaemomethode®, die ihr Entwickler als Teilgebiet der humanistischen Psychologie bezeichnet, in ihrer Gänze zu übernehmen.

Mir ist es wichtig, methodische und theoretische Vertiefung zu Joachim Lemperts Sachen an der heimatlichen Profession festmachen zu können. Die Frage dazu lautet: Was unterstützt Individuen hinsichtlich Selbstbestimmung und -ermächtigung?

Auf zwei Gebiete der Neuen Phänomenologie, die hierzu ergiebig sind, wollen wir noch eingehen.

Affektives Betroffensein

Gefühle sind wie bloße leibliche Regungen Weisen des affektiven Betroffenseins, das dem Betroffenen nahe geht, ihn mit sich nimmt oder gar mitreißt, keineswegs aber private Zustände, die man bei sich vorfindet und (als Lust) begrüßt oder (als Unlust) wegwünscht, und ebenso wenig Akte, mit denen man von sich aus ein Objekt aufsucht.6Schmitz, Hermann. (2016). Ausgrabungen zum wirklichen Leben. Verlag Karl Arber, München. S. 20.

Das sagt Hermann Schmitz in «Ausgrabungen zum wirklichen Leben». Wir verzichten hier darauf, nachzuzeichnen, wie er diese Darstellung begründet und kehren zur Einleitung dieses Textes zurück. Auf die anfänglich zur Verfügung stehende Erfahrungswirklichkeit blickend, ist jetzt zu erahnen, dass der Einbezug der Möglichkeit, mein zu beratendes Gegenüber und ich seien affektiv betroffen, den Handlungsraum in der Beratungspraxis radikal erweitert.

Situationen

Was Hermann Schmitz zu Situationen sagt, ermöglicht es, über gängige Problemlösungsverfahren hinauszugehen, weil anhand des Gesagten Strukturen und Dynamiken, die menschlicher Erfahrung zugrunde liegen, adressiert werden können.

Was der allgegenwärtige (naturwissenschaftlich orientierte) Reduktionismus, so Schmitz, unter den Tisch fallen lässt, sind die «Situationen». Eine Situation ist der konkrete Gegenstandstyp der Lebenserfahrung. Das Spezifische der Situationen ist nach Schmitz der Ruf ihrer Bedeutsamkeit, bestehend aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, die nicht sämtlich einzeln, sondern zu chaotisch mannigfaltiger Ganzheit verschmolzen sind.

Jenseits von Ordnung und Chaos

Schmitz‘ Ausdruck «chaotische Mannigfaltigkeit» meint eine Binnendiffusion, die Akzeptanz dazu erfordert, dass unter den Elementen des Mannigfaltigen keine durchgängige Entschiedenheit dazu erfüllt ist. Es ist aber nicht an Chaos im Sinne von Verworrenheit oder verworrenem Durcheinander zu denken, sondern an Verschwommenheit. Situationen können aktuell oder zuständlich sein, privat oder gemeinsam. Sie können sich als gegenständlich oder als subjekt- und objektunverteilbar übergreifend erweisen.

Eigenschaften der Persönlichkeit

Demnach ist die Persönlichkeit eines Menschen seine persönliche Situation, die viele Situationen in sich trägt und in viele eingebettet ist.

Bedeutung von Eindrücken

Unter den Situationen sind die Eindrücke diejenigen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Sie sind vielsagend, weil sie dank des chaotischen, mannigfaltigen Hofes ihrer Bedeutsamkeit mehr zu verstehen geben, als sich einzeln sagen lässt. Vielsagende Eindrücke, wie beim Betrachten eines interessanten Gesichts, eines Porträts, einer eigenartigen Naturstimmung oder beim Betreten einer Wohnung, die einem gleich behaglich oder kahl vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat, vielsagende Eindrücke sind die genuinen Einheiten der Wahrnehmung. Zwischen den Spitzen der auffälligen Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen, an denen wir uns ständig unwillkürlich orientieren. Eindrücke können ausser dem Hof ihrer Bedeutsamkeit auch beliebige andere Gegenstände, zum Beispiel dingliche oder sinnliche Kerne, enthalten.

Wahrnehmend verstehen

Damit kehren wir zum phänomenologischen Wahrnehmungsmodell zurück. Mit Welt, Phänomen und Originäres Gefühl klopfen wir Mannigfaltiges auf Halt ab. Wir fragen, wie Individuen ihre Erfahrungen und Eindrücke verwerten und wie das ihr In-der-Welt-sein beeinflusst.

Phänomenologische Ergänzung

Sozialarbeiterisch können wir uns, ähnlich wie bei Hans Thiersch7«Lebenswelt ist zunächst ein beschreibendes, phänomenologisch-ethnomethodologisch orientiertes Konzept. Der Mensch wird nicht abstrakt als Individuum verstanden, sondern in der Erfahrung einer Wirklichkeit, in der er sich immer schon vorfindet.» Grunwald, Klaus. Thiersch, Hans (Hrsg.). (2004). Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Juventa Verlag, Weinheim und München. S. 20., auf das Sein in der Welt von Menschen konzentrieren. Weil alle Menschen mit einer Sozialität ausgestattet sind, müssen wir über Selbstverständnisse hinausdenken. Nicht im Namen einer

Avantgarde, die die Bevölkerung zu ihrem Glück zwingen will8Adamczak, Bini. (2017). Beziehungsweise Revolution. Suhrkamp Verlag. S. 254.,

oder indem wir der

Gewalt des Utopiefetischs, eine perfekte Welt imperfekten Bewohnerinnen aufzwängen9 ebenda.,

erliegen.

Dabei greift uns die Tatsachensubjektivität, ein zentraler Begriff der Neuen Phänomenologie, unter die Arme. Er hilft beim Unterfangen, in der lebensweltorientierten Beratungspraxis die Wirklichkeit weder als Konstruktion anzusehen noch sie epistemisch zu binden. Im Vergleich zur Erfahrungswirklichkeit ermöglicht Tatsachensubjektivität, die Sicht eines erlebenden Subjekts zu erhalten, ohne dabei die Existenz einer objektiven Realität zu leugnen. Mit Hinweisen zur Verflechtung von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem debattiert die Tatsachensubjektivität aber auch die strikte Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Sie berücksichtigt die leibliche Erfahrung als grundlegenden Aspekt der Wirklichkeitswahrnehmung und betont den dynamischen Charakter von Erfahrungen und Wahrnehmungen. Letztlich führt sie uns zur Intersubjektivität, der Anerkennung geteilter Erfahrungen und Bedeutungen.

 

Kiesstrand

Dem Kiesstrand entlang schlendern, einen Stein auflesen, einen anderen liegen lassen

Was auf dem Kiesstrand geschieht, betrifft zuerst, was den Erzählungen der Menschen entnommen wird, die Beratung in der Praxis für die Sachen selbst beanspruchen. Und dann, woran die Entscheide festgemacht sind, was von Philosophinnen und Philosophen während einer Beratung eingebracht wird. Gerade heute sind das Überlegungen von

  • Rahel Jaeggi, weil sie Individuen nicht paternalistisch kritisieren will, sondern sich um die Strukturen, die den Individuen Entscheidungsmöglichkeiten vorgeben, kümmert;
  • Susan Neiman, für die Erwachsensein ein Balanceakt ist: Ständig ein Auge darauf zu haben, wie die Welt ist, ohne aus dem Blick zu verlieren, wie sie sein sollte;
  • Hermann Schmitz, weil er der reduktionistischen Introjektion eine Form der Intersubjektivität gegenüberstellt, die er affektives Betroffensein nennt;
  • Bernhard Waldenfels, weil er in jedem Versuch einer verstehenden oder erklärenden Rationalisierung von Gewalt einen Schleichweg sieht;
  • Peter Sloterdijk, weil sich bei ihm Sachen zum radikalen Selbstbezug finden1«Wenn der Mensch in sich hineinschaut, dann findet er, wie Gottfried Ben es einmal sagt; ‹Ich blickte in mich hinein und was fand ich? Ich fand die Soziologie und die Leere.› Das heisst, ich finde Leute und nichts. Und das Nichts bin ich. Dieses Unbestimmte, das noch alles werden kann, diese totipotente Zelle eines absoluten Lebensgefühls, um das herum entwickeln sich die Freiheitsimpulse. Und was dazukommt, ist eine Erfahrung, die schon Kinder erleben, die vielleicht das stärkste Freiheitsgefühl haben: Selbst der Anfang einer Ursachenreihe sein können.»;
  • Matthias Ohler, weil nach ihm das zu Tuende ist, die Sachen der Philosophinnen und Philosophen in ein Dienstleistungsverhältnis zu bringen;
  • Hannah Arendt, weil sie, während sie arbeitete, an Wirkung nicht interessiert war und von
  • Barbara Gründler: weil es «[n]ach dem vorsichtigen Einträufeln des bitteren und schwer zu metabolisierenden Gegengifts der Philosophie (…) zu einer allmählichen Desillusionierung der durch asketische Ideale Verzärtelten und einer befreienden Abkehr von Glaubenssätzen jeder Art kommen» kann2Gründler B. (2019). Von seelischer Selbstvergiftung und Hasskonserven: das Ressentiment im Sprachspiel der Psychiatrie. wbg Academic, S. 354.

Mit dem Angebot der Praxis für die Sachen selbst stehe ich Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung.

Aggression

Aggression muss an den Tag. Im Traum knirscht sie mit meinen Zähnen.1vgl. hierzu: Jesper Juul, Aggression, Warum sie für uns und unsere Kinder notwendig ist, S.Fischer Verlag, Frankfurt, 2013 Sie steht «anything goes!» gegenüber, das weder in beraterischer, noch lebenspraktischer Hinsicht funktioniert. Paul Feyerabend sagt:

Die Weise, in der soziale Probleme und Probleme der Wechselwirkung von Kulturen untersucht und gelöst werden, hängt (…) von den Umständen ab, unter denen sie entstehen, den Mitteln, die zur Zeit verfügbar sind, und den Wünschen der Menschen, die sich mit ihnen beschäftigen. Es gibt keine Bedingungen, denen das menschliche Denken und Handeln immer und unter allen Umständen unterworfen ist.2Irrwege der Vernunft, Suhrkamp, 1996, S.440

Damit ist nicht gemeint, dass alles gelten soll. Menschen, die alles gelten lassen, jeden noch so grossen Widerspruch, landen beim Opportunismus. Dort geht es aggressionsgehemmt zu und her.

Der andere Paul3s.a. Aber ein Paul hilft doch dem anderen, Paul Feyerabend – Paul Hoyningen-Huene Briefwechsel 1983-1994, Passagen Verlag, 2010, Hoyningen-Huene, erklärt in Systematicity, The Nature of Science4Systematicity, The Nature of Science, Oxford University Press, 2013, dass jede Deskription Weglassungen ausgesetzt, und damit Abstraktion ist. Das betrifft besonders das Zustandekommen von Wissen. Alltagswissen ist im Vergleich zur Wissensform Wissenschaft statischer. Wissenschaftlichkeit bleibt durch (systematische) Vorhaben, wie Beschreibung, Ausdehnung, Vorhersage, Verteidigung, Kritischer Diskurs, Epistemische Verbindung usf., beweglicher. In der Praxis für die Sachen selbst lautet darum eine Frage: Was kann, statt mit Interpretation, mit forschendem Interesse an den Tag befördert werden? In Beratungen auf Interpretationen zu verzichten, bedeutet, sich, dem Nächstbesten (mitunter aggressiv) entgegenzustemmen. Ganz wie bei Petzold:

[I]m Sinne einer „systematischen Heuristik“ (…) und eines systematischen spielerischen Denkens (…) nach kompatiblen Methoden oder verwandten Theorien (…) suchen, die eine situative Stimmigkeit, eine „ökologische Validität“ (…) zu gewährleisten versprechen.5Integrative Therapie, 2. Modelle, Theorien und Methoden für eine schulenübergreifende Psychotherapie, 1993, S. 474

Wer Beratung in der Praxis für die Sachen selbst in Anspruch nimmt, kümmert sich alltagsbezogen um die persönliche Integrität und wird sich in wissenschaftlicher Hinsicht hiermit beschäftigen: Was muss gerade ich, zu dieser Zeit, an diesem Ort, gelten lassen?

Zur Bedeutung von Aggression besteht in der Praxis für die Sachen selbst keine Einigkeit mit Erich Fromm. In seiner Anatomie der menschlichen Destruktivität sagt er:

Wenn wir uns darauf einigen, als «Aggression» alle Akte zu bezeichnen, die einer anderen Person, einem Tier oder einem unbelebten Objekt Schaden zufügen oder dies zu tun beabsichtigen, dann sind die vielen verschiedenen Arten von Impulsen, die man unter der Kategorie «Aggression» zusammenfasst, grundsätzlich daraufhin zu unterscheiden, ob es sich bei ihnen um die biologisch adaptive, dem Leben dienende, gutartige Aggression oder um die biologisch nicht adaptive, bösartige Aggression handelt.6Anatomie der menschlichen Destruktivität, Rowohlt, 2015, S. 209

In der Praxis für die Sachen selbst werden Akte, die einer Person oder einem Tier Schaden zufügen, als Gewalt bezeichnet. Solche Absichtserklärungen werden als Drohungen angesehen. Menschengemachte Beschädigung unbelebter Objekte ist davon ausgenommen (und als Sachbeschädigung bezeichnet). Statt zwischen gutartiger und bösartiger Aggression wird zwischen Gewalt und Aggression unterschieden. Begrifflich wird Aggression ursprünglich verwendet:

(…) Aggression im buchstäblichen Sinn der Wortwurzel – aggredi von ad gradi (gradus bedeutet «Schritt» und ad «auf etwas zu», was also so viel heisst wie «sich auf etwas zu bewegen», gehen, schreiten) -, ähnlich wie Regression von regredi kommt und «sich zurückbewegen» bedeutet. (…) Aggressiv sein in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes, heisst so viel wie auf ein Ziel losgehen (…)7Ebd. S. 212

Gestalteter Lebensvollzug ist mit Aggression verzahnt. Das bedeutet, eigener Instabilität offensiv zu begegnen, als auch eigenes Widerstreben laut werden zu lassen.

Einen Spalt weit

Im Vorwort von Zwischen Vergangenheit und Zukunft geht Hannah Arendt auf die Entdeckung der Freiheit ein. Sie macht das am Erleben des Schriftstellers Réne Char fest. Am Ende der dritten französischen Republik (1870 – 1940) wurde er Mitglied der Résistance. Diese Organisation kümmerte sich im Untergrund um die Schaffung eines öffentlichen Raumes, in dem die Angelegenheiten des Landes verhandelt und durch Wort und Tat erledigt wurden.
Arendt bring Chars Freiheit nicht mit Handeln in Verbindung, das gegen die deutschen Besatzer gerichtet war. Ihm und seinen MitstreiterInnen sei die Freiheit erschienen, weil sie sich initiativ um diesen öffentlichen Raum gekümmert hätten. Char: Bei jedem gemeinsamen Mahl bitten wir die Freiheit an unseren Tisch. Der Platz bleibt leer, aber das Gedeck liegt bereit. Die Herausforderung bestand in der Aufrechterhaltung der Idee, so Arendt.

Char habe vorausgesehen, das nach dem Krieg wieder zu verlieren. Wenn ich davon komme, werde ich auf das Arom dieser wesentlichen Jahre verzichten müssen.

Der Platz in der Zeit, der weit genug von der Vergangenheit und der Zukunft entfernt ist, von dem aus miteinander kämpfende Kräfte mit einem unparteiischen Auge beurteilt werden können, ist nicht einfach da. Er muss jedes Mal von Neuem geschaffen werden.

Trotzdem der Platz der Freiheit leer bleiben wird, es als erforderlich ansehen, wieder und wieder für sie einzudecken, ist nach Arendt eine Denkerfahrung.

Von der Tätigkeit, solche Denkräume zu schaffen, entfernten wir uns, so Arendt weiter, indem wir zusehends auf den Platzhalter Tradition setzten. Dass der Begriff Abnutzung erfuhr und letztlich Ausserkraftsetzung, führte zu allgemeiner Verwirrung.

An dieser Tafel für vier Gäste war für das WIE, als möglichen fünften Gast, eingedeckt. Es sollte für einmal nicht darum gehen, WAS gedacht wird, sondern um die Frage, wie es gelingen kann, denkend einen Spalt offenzulassen, in dem Wahrheit eventuell erscheinen mag.

…und so fort…

Deine Darstellung ist trostlos, aber nur für die Analyse, deren Grundfehler sie zeigt. Es ist zwar so, daß der Mensch sich aufhebt, zurückfällt, wieder sich hebt und so fort, aber es ist auch gleichzeitig und mit noch viel größerer Wahrheit ganz und gar nicht so, er ist doch Eines, im Fliegen also auch das Ruhen, im Ruhen das Fliegen und beides vereinigt wieder in jedem Einzelnen, und die Vereinigung in jedem, und die Vereinigung der Vereinigung in jedem und so fort, bis, nun, bis zum wirklichen Leben, wobei auch diese Darstellung noch ebenso falsch ist und vielleicht noch täuschender als die deine. Aus dieser Gegend gibt es eben keinen Weg bis zum Leben, während es allerdings vom Leben einen Weg hierher gegeben haben muß. So verirrt sind wir.

Franz Kafka

Zwischen den Seiten von Ich und Welt fand sich ein Zeitungsartikel zu Schulz’ Untersuchungen der Geschichte der Ästhetik. Weil ich es, nachdem das Zitat aus der Einleitung kopiert war, meinem Freund schenkte, bleibt das Buch von hier aus gesehen eines, über das man spricht, aber nicht gelesen hat. Ob es die Überlegung enthält, dass Subjektivität, auf die sein Untertitel eingeht, am Ich haftet und kaum anders in der Welt vorkommt? Dass Auseinandersetzungen aus der Vergangenheit – das Buch stammt aus dem Jahr 1979 – es mitunter vermögen, die Gegenwart zu entwirren, stand beim Verschenken im Hintergrund. In erster Linie erhielt der Freund das Buch, weil es ästhetisch ist, einen Verweis zu einem weiteren Buch enthält, das mit Ästhetik befasst ist, und weil ein Antiquar mit ihm ein Schaufenster auf eine Weise ausstattete, die meine Subjektivität zu betreffen vermochte. Ein Ich bespielte die Welt. Sie bespielte daraufhin ein Ich. Und so fort.

Merkmale

Autonom eine Entscheidung fällen zu können, ist davon abhängig, dass einer Person die Frage «Was soll ich tun?» etwas bedeutet und das, wozu sie einen Entscheid zu fällen hat, etwas mit ihr zu tun hat. Die Person soll mit dem Gegenstand der Entscheidung und der Frage dazu identifiziert sein.

Auslegung in der Praxis für die Sachen selbst ist bestimmt durch

Vertrauen darin, dass personales Wachstum möglich ist,

Erfahrung, im Hinblick darauf, dass jede Person in der Lage ist, sich auf sich selbst zu beziehen,

Vermutung, mit der sich vor Augen zu halten ist, eine bestimmte Hermeneutik auf die Narrative der zu beratenden Person zu legen und in einem zweiten Schritt, was ihre Erzählung, unter Beizug phänomenologischer Gesichtspunkte, sein könnte.

Die Gespräche in der Praxis für die Sachen selbst orientieren sich an Beschrieben, an Bildern, an Gefühlen und an der Revision von Dargebrachtem.

Persönliche Revolution besteht niemals darin, plötzlich draufzukommen, sich komplett geirrt zu haben. Der eigene Deutungshorizont verändert sich langsam. Dieser Umstand wird zur Quelle, kristallisieren sich Probleme heraus, um die sich plötzlich das ganze Leben zu sortieren scheint. Unsere Sicht auf das eigene Dasein ist kein Kippbild. Wir sind in der Lage den Spuren zu folgen, die unsere Sichtweise beeinflussen. Wir vermögen es, was bei der Lösung eines Problems als Störung auftritt, als Vorboten anzusehen: Was in Verbindung mit Unlösbarkeit als Störfaktor erscheint, ist dabei oft die Urform der Lösung.

Es lohnt sich, über Wert- und Normvorstellungen zu sprechen. Oft sind hier lähmende Widersprüche zu finden. Die Widersprüche werden bleiben. Die Möglichkeit an ihnen zu wachsen auch.

Pausen

Primäre und sekundäre Sinnesqualitäten, die von der kulturspezifischen europäischen Abstraktionsbasis noch zugelassen werden, treten in der faktischen Wahrnehmung ganz zurück hinter Qualitäten anderer Art, die Brücken leiblicher Kommunikation sind, von der Wissenschaft aber bis heute übersehen werden, weil sie von der Abstraktionsbasis, auf der die Begriffsbildung beruht, verdrängt sind. Es handelt sich in meiner Terminologie um Gestaltverläufe und synsästetische Charaktere. Gestaltverläufe sind Bewegungssuggestionen von Gestalten. Darunter auch von solchen, die selbst Bewegungen sind. Manche Gebärden sind winzige Bewegungen mit wuchtigem, weit auslandenem vielsagendem Gestaltverlauf, der der Gebärde ihren Sinn oder ihre Zudringlichkeit gibt. Denken Sie daran, dass man auf einen nahen Menschen mit dem Finger zeigt. Gestaltverläufe kommen als optische, akustische und taktile vor und können fast unverändert von einem Medium in das andere und in den gespürten eigenen Leib übergehen. Wie zum Beispiel der Rhythmus, das heisst der Gestaltverlauf einer eventuell von Pausen durchsetzten Sukzession. Deswegen schreibt man ja Gedichte, die unter die Haut gehen sollen, eher in rhythmischen Versen als in Prosa.

Hermann Schmitz

Phänomenologische Betrachtung

Um zu beschreiben, was phänomenologische Betrachtung auszeichnet, gehen wir zuerst auf das Verhältnis zwischen Konstruktivismus und Phänomenologie ein und setzen voraus, dass der Konstruktivismus an einer Ontologie festgemacht sein muss, will mit ihm etwas über die Wirklichkeit gesagt werden. Um sehen zu können, was damit gemeint ist, bezeichnen wir Erfahrungswirklichkeit als Koordinatenursprung. Statt auf Konstruktivismus, der ohne fundamentale Strukturen des Seins und seinem Wesen auszukommen sucht und so auch Erfahrungswirklichkeit losgelöst, für sich alleine stehend, betrachten würde, gehen wir auf eine Form ein, die Varga von Kibéd konsequenten Konstruktivismus nennt.1vgl. Varga von Kibéd, M., & Sparrer, I. (2018). Ganz im Gegenteil: Tetralemmaarbeit und andere Grundformen systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker, und solche die es werden wollen (Zehnte Auflage). Carl-Auer-Systeme Verlag. Nach dieser Ausprägung ist es erforderlich, sich selber auch als interessante Konstruktion, und damit als im Bodenlosen verwurzelt, anzusehen. Das soll unser Scharnier sein. Von hier aus schlagen wir den Bogen zur Phänomenologie.

Nun können wir fragen, wer im Bodenlosen verwurzelt ist. Aus Sicht des Phänomenologen Hermann Schmitz lautet die Antwort: Der Leib. Ein humanoides Ich kann (unabhängig von seinen 5 Sinnen) feststellen, dass immer schon etwas da ist, wenn es auf sich oder auf das, was es umgibt, bezogen ist.2vgl. Hartmut Rosa in Unverfügbarkeit. (2018). Residenz Verlag, S. 12, zu Maurice Merleau-Pontys Welt-Subjekt-Beziehung Gerade die neue Phänomenologie beteuert, aufgrund dieser Feststellung müsse es der Leib sein, der schon da ist. Sein Dasein ist nicht alleine an seinem Denken festgemacht, sondern an einer Art Gesamteindruck, also auch an Wahrnehmung. Die neue Phänomenologie nennt solches Wahrnehmen affektives Betroffensein. Darauf stellt der Satz Was zwingt mich, etwas zu einer Zeit an einem Ort gelten zu lassen? ab und daraus entwickelt Schmitz seine Revisions-Idee. Das lässt sich anhand von Schmitz‘ Umgang mit Situationen konkretisieren. Situation sieht er als grundlegenden und konkreten Gegenstandstyp der Lebenserfahrung an. Das Spezifische von Situationen ist, so Schmitz, der Ruf ihrer Tragweite. Sie bestehen aus Sachverhalten, Programmen und Problemen, die nicht sämtlich einzeln, sondern zu chaotisch mannigfaltiger Ganzheit verschmolzen sind. Schmitz‘ Ausdruck chaotische Mannigfaltigkeit meint eine Binnendiffusion3vgl. http://www.topowiki.de/wiki/Explikation, die darin besteht, dass unter den Elementen des Mannigfaltigen keine durchgängige Entschiedenheit dazu erfüllt ist. Es ist nicht Chaos im Sinne von Verworrenheit oder verworrenem Durcheinander gemeint, sondern im Sinne von Verschwommenheit. Situationen können aktuell oder zuständlich sein, privat oder gemeinsam. Gegenständlich oder subjekt- und objektunverteilbar übergreifend. Die Persönlichkeit eines Menschen ist seine persönliche Situation, die viele Situationen in sich trägt und in viele eingebettet ist. Unter den Situationen sind die Eindrücke diejenigen, die in einem Augenblick ganz zum Vorschein kommen. Sie sind vielsagend, weil sie dank des chaotischen, mannigfaltigen Hofes ihrer Aussagekraft mehr zu verstehen geben, als sich einzeln sagen lässt. Vielsagende Eindrücke, wie beim Betrachten eines interessanten Gesichts, eines Porträts, einer eigenartigen Naturstimmung oder beim Betreten einer Wohnung, die einem gleich behaglich oder kahl vorkommt, noch ehe man sich umgesehen hat, vielsagende Eindrücke sind die genuinen Einheiten der Wahrnehmung. Zwischen den Spitzen der auffälligen Eindrücke gibt es die Scharen der unauffälligen, an denen wir uns ständig unwillkürlich orientieren. Eindrücke können ausser dem Hof ihrer Bedeutung auch beliebige andere Gegenstände, zum Beispiel dingliche oder sinnliche Kerne, enthalten.4vgl. Hermann Schmitz zu «Wege zu einer volleren Realität»

Das wird hier nicht als grundsätzliche Absage an den Reduktionismus verwendet. Für den Moment ist einfach verlangt, die Bildung von Alltagswissen und die Bildung von wissenschaftlichem Wissen auseinanderzuhalten. In Situationen, wie von Schmitz verstanden, bleibt der Bezug zwischen Lebensumständen und eigener Positionalität erhalten.

Vom Rationalismus (als Denkweise) nehmen wir hier an, dass er epistemisch mit der Wirklichkeit ringt. In der Übertreibung ist mit dem Konstruktivismus gemeint, dass es keine Wirklichkeit gibt. Die Phänomenologie nimmt in Anspruch, dass immer schon etwas da ist, das (trotz aller Epistemisierung) nicht hintergangen werden kann.

Um den phänomenologischen Blick zu schärfen, wird abschliessend die (soziologische) Erfahrungswirklichkeit durch einen passenderen Begriff ersetzt. Gottfried Ben habe, so Sloterdijk, mal gesagt: «Ich blickte in mich hinein und was fand ich? Ich fand die Soziologie und die Leere». Das bedeute, so Sloterdijk weiter, ein Ich findet Leute und nichts. Und das Nichts ist das Ich.5vgl. Peter Sloterdijk in Sein und Streit zu Freiheit Das Nichts ist jedoch bereits bestimmt durch das Unbestimmte, das noch alles werden kann. Diese unbestimmte Bestimmung ist im Vergleich zum Begriff Erfahrungswirklichkeit mit Tatsachensubjektivität deutlicher gefasst. Sie ist ein Fazit der neuen Phänomenologie. Mit ihr lässt sich die Empfehlung unterstreichen, in der (alltags-, bzw. lebensweltorientierten) Praxis Versuchen zu erliegen, die Wirklichkeit weder als Konstruktion anzusehen noch sie epistemisch zu binden.6vgl. Bogner, A. (2021). Die Epistemisierung des Politischen: wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Reclam.